Schreibwerkstatt: Eine Sache, die ich gerne früher gewusst hätte 🫠
Ist es schlimm, wenn am Anfang der Geschichte die Figuren noch nicht stehen?
Ist es schlimm, wenn am Anfang der Geschichte die Figuren noch nicht stehen?
Lange war ich der Überzeugung, wer seine Charaktere nicht kennt, hat den Text und das, was er/sie erzählen möchte, nicht im Griff. Natürlich sollte man nicht völlig planlos umher schwimmen, aber man muss auch nicht jede Figur bis ins kleinste Detail festlegen, bevor man den ersten Satz geschrieben hat.
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Die Figuren über den Plot kennenlernen
Als ich dieses Jahr eine Schreibwerkstatt für Jugendliche geleitet habe, war eins der größten Themen, dass sich viele von ihnen damit schwer taten, Charaktere zu entwerfen. Gleichzeitig gab es neidvolle Blicke auf diejenigen, die sich gar nicht retten konnten vor detaillierten Feinheiten. Die Tatsache ist aber, dass man nur lernt zu schreiben, wenn man schreibt. Deshalb habe ich ihnen dazu geraten, einfach loszuplotten – und über die Geschichte die Figuren kennenzulernen. Manchmal bedeutet diese Herangehensweise mehr Arbeit, aber Hauptsache, auf dem Blatt steht erstmal was.
In meinem Schreibprozess lerne ich die Figuren erst so richtig gut kennen, wenn ich über die Hälfte geschrieben habe. Das bedeutet bei jedem Manuskript, dass ich immer wieder akribisch an den Anfang zurückgehe, und die Charaktere insofern unterbaue, dass die Handlungen im späteren Verlauf darauf aufbauen können. Manchmal wäre es mir lieber, es würde einfacher funktionieren, aber für mich ist das eine bewährte Methode.
Beispiel: Du legst am Anfang fest, dass deine Protagonistin viel feiern geht und ein Drogenproblem entwickelt. Nach den ersten rauschhaften Szenen ändert sich der Plot – die Figur betritt eine Therapiepraxis. Du merkst beim Schreiben, dass die Gespräche mit der Ärztin viel spannender sind als noch weitere Partys zu verschriftlichen. Ergo: Deine Protagonistin hat keinen Bock mehr zu feiern und möchte dir stattdessen etwas über ihr Problem erzählen. Somit hat der sich verändernde Schwerpunkt im Plot deinen Charakter ganz nebenbei überarbeitet.
Margaret Atwood arbeitet andersherum
Vor einigen Jahren habe ich die Masterclass von Margaret Atwood gemacht und eine Sache, die hängengeblieben ist, ist der Steckbrief, den sie für jeden Charakter im Vorfeld anlegt: er beginnt beim Aussehen und dem Kleidungsstil und spannt sich auf bis zur Sprache und politischen Einstellung. Vieles davon fließt nicht als Information in den Roman, ist aber für sie wichtig zu wissen, damit die Figur lebendig wird.
Übrigens: Über so einen Steckbrief kann man sehr einfach Widersprüchlichkeiten oder Eigenheiten anlegen, die den Charakter authentisch machen.
Ich habe diesen Steckbrief schon oft in meiner Schreibwerkstatt empfohlen, weil er am Anfang ein Gerüst und somit Sicherheit gibt, aber eine Sache möchte ich ergänzen: Charaktere, seien sie noch so durchdacht, dürfen sich trotzdem im Laufe der Geschichte ändern!
Beispiel: Du legst am Anfang fest, dass deine Protagonistin eine schnoddrige Ausdrucksweise hat und überlegst dir ganz genau, wie sich das zeigt und warum. Im Laufe der Geschichte lernt sie jedoch jemanden kennen, der ganz organisch flapsig spricht. Das ist blöd, denn sie unterhalten sich auf eine ähnliche Weise und aus Leser:innensicht wird es nun langweilig und unübersichtlich. Also findest du eine neue Sprache für die Protagonistin und überprüfst, welche Eigenschaften noch passen und welche nicht mehr.
🤓 Wer sich also schwer tut, eine Figur von Anfang an griffig zu haben, schreibt vielleicht ähnlich wie ich und möchte/kann sie erst über den Inhalt so richtig kennenlernen. Was dabei zu beachten gilt:
Sich trauen, eine Figur erst langsam entstehen zu lassen (3D!) und
zu wissen, dass sie sich verändern kann. Nicht nur im Zusammenhang mit der inhaltlichen Reise, sondern oftmals rückblickend, was zu größeren Überarbeitungsprozessen führen kann
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Wer schreibt:
📝 Mein Name ist Anika Landsteiner und ich arbeite als Autorin. Mein Fokus liegt auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Feminismus und Popkultur. In meiner Schreibwerkstatt unterstütze ich angehende Autor:innen.
📚 Im Fischerverlag sind die Bestsellerromane So wie du mich kennst (2021) und Nachts erzähle ich dir alles (2023) erschienen. Im Mai 2024 wurde mein Essayband über weibliche Scham bei Rowohlt veröffentlicht.
🎙️ Im Podcast „Hello, lovers!“ sprach ich 4 Staffeln lang mit der Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm darüber, wie gleichberechtigte Liebe funktionieren kann.
🫀 Neu hier? Im Archiv findest du alle vergangenen Ausgaben der Kolumne „Schreiben am offenen Herzen“.