Schreibwerkstatt: Wo hört Talent auf und wo fängt Handwerk an?
Bestseller-Autor Pierre Jarawan und Debütautorin Anne Sauer teilen hilfreiche Tipps!
Ich finde die Überlegung, wo Talent aufhört und wo Handwerk beginnt so wichtig wie spannend. Weil es mich einfach nervt, wie oft ich mir anhören muss:
Hach. Wenn ich Zeit hätte, würde ich auch mal ein Buch schreiben.
Ah ja? Ich denke mir bei absolut keinem Beruf, zu dem ich keinerlei Bezug habe, dass es lediglich an der fehlenden Zeit läge, ihn auszuüben.
Die Sache ist die: Ein Buch zu schreiben ist eine Tätigkeit, die schon immer krass romantisiert wird. Für viele ist der eigene Roman ein Punkt auf der Bucketlist. Und weil sowieso alle davon ausgehen, dass man davon nicht leben kann, wird das Handwerk, das darin steckt, einfach weggedacht und man sieht sich selbst vor knisterndem Kaminfeuer sitzend, ein bisschen Glitzer auf die Tastatur, fertig ist das Meisterwerk.
Ein Buch zu schreiben ist harte Arbeit. Manchmal schreibt man sogar zwei, um am Ende eins zu haben (looking at you, Pierre!) Deshalb habe ich zwei Kolleg*innen nach ihren handwerklichen Tipps gefragt, die euch hoffentlich beim Durchhalten helfen.
Logisches Denken und Geduld: No fun at all, aber wichtig!
Anne Sauer schreibt gerade ihren Debütroman, der voraussichtlich im Herbst 2025 bei Rowohlt Hundert Augen erscheint:
„Wie man einen Roman schreibt“, finde ich auch gerade erst heraus. Ein Handwerk, das ich mir dabei selbst noch beibringe, ist logisches Denken und Geduld mit Details. Heißt: Die Leser:innen an der Hand zu nehmen, sie durch die eigene Geschichte durchzuführen, damit sie auf Seite 4 nicht schon völlig lost sind und schnell wieder nach Hause wollen.
Schreiben bedeutet auch, verständliche Settings zu kreieren, sich Skizzen machen, Eigenschaften und Eigenarten von Figuren notieren. Sich fragen: Wo wird das gerade unlogisch, ergibt das Sinn, dass meine Figur sich auf dem Küchentresen abstützt – hat meine Romanküche überhaupt so etwas, oder habe ich die 40 Seiten vorher ganz anders beschrieben? Das macht nicht unbedingt immer Spaß, ist aber wichtig, um die Leser:innen nicht zum Stolpern zu bringen. Ein guter Tipp meiner Lektorin war auch: „Denk beim Set-Design weniger an Beschreibungen, sondern an die Details und ihre Funktionen für den Text, die Figuren und die Geschichte.“ The devil lies also in the detail, aber je mehr Gedanken du da reinsteckst, desto weniger machen sich am Ende deine Leser:innen.
How to fail: Warum Löschen und Verwerfen ein Teil des Schreibens ist
Pierre Jarawan ist vielfach ausgezeichneter Autor zweier Romane: Sein Debüt „Am Ende bleiben die Zedern“ wurde ein internationaler Bestseller, der Nachfolger „Ein Lied für die Vermissten“ war in der englischen Übersetzung (Song for the Missing, Ü: Elisabeth Lauffer) für den Dublin Literary Award nominiert.
Vielleicht kann man sagen: Handwerk beginnt mit der Bereitschaft zu scheitern. Nicht: am eigenen Projekt oder dem Schreiben an sich, sondern im Kleinen – an einzelnen Sätzen, Absätzen, Seiten, Kapiteln. Anfänger*innen kommen oft an den Punkt, an dem sie nicht weiterwissen oder das Gefühl haben, festzustecken. Dabei ist das, was man gern als „Schreibblockade“ bezeichnet in Wahrheit oft ein konkretes Problem, das im Text steckt und das identifiziert werden muss (man hat sich auf eine Idee versteift und stellt jetzt fest, dass sie nicht funktioniert oder man ist irgendwo falsch abgebogen …) – oder es ist die Angst vor dem Text an sich, die Sorge, dem eigenen Anspruch nicht gerecht zu werden und also „zu scheitern“.
Aber: Niemand – und schon gar nicht Profis – schreiben perfekt oder ohne jemals Probleme mit dem eigenen Text zu bekommen. Dazu ist ein Roman einfach ein zu komplexes Vorhaben! Und hier hilft genau dies: Erlaube dir, auch mal schlecht zu schreiben. Hauptsache, du schreibst. So oft wie möglich. Lasse zu, dass der Text erst mal dasteht, und wenn du ihn nicht gut findest – perfekt! Denn hier kommt das Handwerk ins Spiel, die Überarbeitung.
Je schneller du für dich annimmst, dass Schreiben und Überarbeiten gleichwertige Prozesse sind, desto eher wird deine Angst vor dem Schreiben nachlassen. Niemand spricht gern darüber, aber es ist – wirklich – vollkommen normal, manchmal 20, 30, 50 Seiten zu löschen, die man liebt und für die man Monate gebraucht hat. Aber wenn sie dem Text nicht dienen, haben sie im Text nichts verloren. Das mag schmerzhaft klingen (ist es oft auch), aber es hilft sehr, sich einfach ein anderes Mindset dafür zuzulegen. Weg von „Ich habe 50 Seiten Mist geschrieben“ hin zu: „Hätte ich diese 50 Seiten nicht geschrieben und dann gelöscht, wäre ich nie zur richtigen Lösung gelangt."
Mein zweiter Roman „Ein Lied für die Vermissten“ hat 450 Seiten. In den vier Jahren der Arbeit daran habe ich in der Summe 350 Seiten gelöscht (wenn man so will, habe ich also einen ganzen Ausschuss-Roman nebenher geschrieben). Manchmal waren es nur einzelne Absätze, nicht selten auch ganze Kapitel.
Kurz: Schreiben bedeutet keineswegs, jeden Tag immer neue Seiten zu füllen. Es bedeutet manchmal auch, wochenlang das Geschriebene durchzuschütteln, neu anzuordnen oder zu löschen – all das ist Schreiben.
Ich habe ebenfalls einen handwerklichen Tipp, der für mich ein absoluter Gamechanger war. Aber weil diese Ausgabe nun so lang und dicht wurde – vielen Dank an Anne und Pierre, die ihr Wissen mit uns geteilt haben! – erzähle ich euch meinen Tipp im nächsten Newsletter.
Würdest du gerne upgraden, kannst es dir aber nicht leisten? Dann schreib’ mir einfach, wir finden eine Lösung.
Wer schreibt:
📝 Mein Name ist Anika Landsteiner und ich arbeite als Autorin. Mein Fokus liegt auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Feminismus und Popkultur.
❤️🔥 Hier auf Substack veröffentliche ich einmal im Monat die Kolumne „Schreiben am offenen Herzen“. Die erste Ausgabe ist für alle frei geschaltet:
📚 Im Fischerverlag sind die Spiegel-Bestseller So wie du mich kennst (2021) und Nachts erzähle ich dir alles (2023) erschienen. Im Mai 2024 veröffentliche ich meinen Essayband über weibliche Scham bei Rowohlt.
🎙️ Im Podcast „Hello, lovers!“ spreche ich mit der Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm darüber, wie gleichberechtigte Liebe funktionieren kann.
Hab mich selten ertappter (ein Buch ist natürlich auf meiner Bucket-Liste) und verstanden ("Damit kann man Geld verdienen, Andreas?!") gefühlt. Hot take: Schreiben ist wie Massieren. Jeder Mensch, der auf dem Frankreich-Austausch '97 am Strand seinem Crush den Rücken eingecremt hat, denkt doch heute, mit ein, zwei Youtube-Videos mehr könnte er der Chiropraktiker der Stars sein.