Lesen am offenen Herzen

Hier findest du alle Buchtipps der einzelnen Ausgaben, neueste zuerst.

🐢 Willkommen auf Tuga von Francesca Segal
übersetzt von Verena Kilchling

Die Londoner Tierärztin Charlotte Walker hat ein Stipendium auf der winzigen, abgelegenen Insel Tuga de Oro angenommen, um die vom Aussterben bedrohten Goldmünzenschildkröten im Inneren des Dschungels zu untersuchen. Nicht nur aufgrund dieses spannenden Auftrags, sondern auch, weil sie vermutet, ihr Vater könne von der Insel stammen, macht sie sich auf den Weg.

Sehr bildlich und detailverliebt lässt Francesca Segal eine Insel entstehen, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Man begleitet Charlotte beim Ankommen und lernt nach und nach liebenswerte, nervige und verschrobene Charaktere kennen, deren Familien seit Generationen auf Tuga leben und die Charlotte mit ihren Marotten von der Arbeit abhalten. Das ist manchmal etwas langatmig (ca. 500 Seiten) und auch recht vorhersehbar, ABER was macht es Spaß, in diese überbordend-schöne Welt einzutauchen und den dunklen Winter von sich abzustreifen. Ich habe diese Geschichte nur morgens und abends im Bett gelesen und das war wirklich eine Wohltat.
Übrigens: Der Roman ist der Auftakt einer Trilogie.

🦅 Die Schwarzgeherin von Regina Denk

Tirol, Ende des 19. Jahrhunderts. Das entbehrungsreiche Leben in ihrem von Aufklärung und Fortschritt vergessenen Dorf hat die 18-jährige Theres hart werden lassen – aber auch mutig, stolz und stark. Als der mysteriöse Xaver im Tal auftaucht, verliebt sich Theres in den Fremden, den alle anderen bald für einen Wilddieb halten und eine Falle stellen, aus der dieser schwer verletzt entkommt. Außer sich vor Schmerz flüchtet die schwangere Theres in die Einsamkeit der Hochalpen.

Jahre später kann Maria, Theres’ Tochter, den Wunsch nach Selbstbestimmung nicht teilen. Sie will genau das, was ihre Mutter zurückgelassen hat, und bringt damit beide in tödliche Gefahr.

Theres ist eine zeitlose Heldin, deren kompromisslose Grenzüberschreitungen an historische Outlaws erinnern – aber das Beste an der Geschichte ist eben, dass diese Figur eine Frau ist.

🌳 The God of the Woods von Liz Moore (erscheint auf dt. 2025 bei Hanser)

1975 - In einem Sommercamp in den Wäldern NYs verschwindet ein Teenager. Der Familie der Vermissten gehört das Camp und Land, sie beschäftigt das halbe Dorf drumherum und als alle mit der Suche beginnen und die Polizei eintrifft, wird einer jungen Ermittlerin schnell klar: Über die Tatsache, dass Jahre zuvor der Bruder der Vermissten ebenfalls verschwand, spricht hier niemand.

Auf fast 500 Seiten spannt Liz Moore eine komplexe Story aus vielen Menschen, die sich auf einem Zeitstrahl bewegen, und nach und nach zu wichtigen Puzzleteilen werden, um all die Geheimnisse zu lüften.

Alternde Detectives, dunkle Wälder, Reiche hinter geschlossenen Türen, eine junge Frau, die die richtigen Fragen stellt, und ein See, der klar vor einem liegt. Für alle, die Serien wie True Detective und Mare of Easttown lieben! Und eben diesen unvergleichlichen Vibe amerikanischer Autor:innen, die sich zwischen Crime und Gesellschaftsroman bewegen.

🐕 Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen von Anna Brüggemann

Im Sommer durfte ich ein Manuskript lesen, das mich durch seine fein ausgearbeiteten Figuren und die kurzweiligen Kapitel total reingezogen hat. Bei den drei unterschiedlichen Protagonistinnen hatte ich ständig das Gefühl: Die kenne ich doch alle! Am liebsten würde ich dieses Buch jeder Freundin schenken. Und ihrer Mutter.

⚖️ Selbst schuld! Herausgegeben von Ann-Kristin Tlusty & Wolfgang M. Schmitt

Wer ist der/die Täter:in? Du! Du bist selbst an allem schuld.
So will es unsere allgegenwärtige Schuld-Ideologie.
Weil ich mich in den letzten zwei Jahren intensiv mit dem Gefühl der Scham beschäftigt habe, ist es nur konsequent, mich nun in die Schuld einzulesen. Denn wie es im Vorwort dieser frisch erschienenen Anthologie heißt: „Doch während die Thematisierung von Scham auf ihre individuelle Überwindung abzielt, birgt die kommende Diskussion um Schuld politische Sprengkraft.”

Aus Tlustys Essay zum Thema Faulheit habe ich den Anstoß mitgenommen, diese zu demokratisieren, denn: „Freizeit ist (…) nicht länger das Gegenteil von Arbeit, sondern deren Verlängerung.” Im Text zum Thema Recht von Maximilian Pichl habe ich fett angestrichen: „Das ‘Law-and-Order-Denken’ löst keine Probleme, sondern schafft immer neue Situationen des Ausschlusses und des Frusts.”

Ein kritischer Blick auf unsere Gegenwart, in der zu oft mit dem Finger auf das Individuelle gezeigt wird, um von gesellschaftlichen Bedingungen abzulenken. Bei manchen Essays hätte ich mir jedoch die persönlichen Einblicke gewünscht, mit denen der Klappentext lockt.

❤️‍🔥Perfume & Pain von Anna Dorn (keine dt. Ausgabe bislang)

Wenn mich jemand fragen würde, was mein Lieblingsgenre beim Lesen ist, kann ich das mittlerweile ziemlich genau sagen: Moderne Unterhaltungsliteratur aus UK oder USA mit Dialogen, die zum Schreien lustig sind, mit popkulturellem Bezug und Protagonist:innen, die seltsame Dinge tun. Dieser Roman vereint all das.

Astrid Dahl ist eine relativ bekannte Buchautorin, die in L.A. lebt und gerade so halbwegs gecancelt wurde. Nachdem sie sich in eine Beziehung zu Ivy hineinsteigert, die derart mit red flags am Wegesrand gesäumt ist, dass ihr nur noch Patricia Highsmith helfen kann (ein Cocktail aus Adderall, Zigaretten und Alkohol), verliebt sie sich Hals über Kopf in ihre Nachbarin – eine Künstlerin, die Urban Outfitters verklagte und jetzt von dem Schlichtungsgeld lebt. Astrid labert und handelt so zügellos, dass ich oft laut lachen musste. Und obwohl gar nicht so viel passiert auf diesen 340 Seiten, bin ich nur so durch den Roman geflogen und habe mich wahnsinnig gut unterhalten gefühlt.

Dieses Buch könnte Fans von Melissa Broder gefallen und allen Leser:innen, die Charaktere mögen, die komplett unhinged durch ihr Leben stolpern. Ich habe direkt nach dem Lesen ein anderes Buch von Anna Dorn bestellt (Perfume & Pain ist das aktuellste), leider werden die Werke der Amerikanerin bislang nicht ins Deutsche übersetzt.

❤️‍🩹 Die schönste Version von Ruth-Maria Thomas

Es ist wirklich gemein, wie Ruth-Maria Thomas ihre Leser*innen auf die allerschönste Poesie einer liebestrunkenen Nacht bettet, um sie in der zweiten Szene in das grelle Scheinwerferlicht einer Polizeistation zu werfen.

In diesem Debüt geht es nicht nur um häusliche Gewalt, es geht vor allem darum, was vorher passiert. Mädchenkram und Girlhood, weibliches Teenie-Sein in den späten Nullerjahren wird derart schmerzhaft herangezoomt und auseinandergenommen, dass ich an vielen Stellen sagen wollte: So war das nicht. Denn genau so war das leider. Und dann schlittert Jella mit Anfang 20 in eine Beziehung mit Yannick, die sich derart toxisch entwickelt, dass man meinen könnte, sie sei die Grundlage des Begriffes, mit dem wir heute um uns werfen. Nicht alles an der Geschichte hat mir gefallen, insgesamt ist das aber ein so wichtiger und mutiger Roman, dessen Sprache (vor allem auf den ersten und letzten Seiten!) mich wahnsinnig berührt hat.

😵‍💫 Auf allen Vieren von Miranda July

übersetzt von Stefanie Jacobs

Die 45-jährige Protagonistin ist eine mittelmäßig bekannte Künstlerin, die sich zu ihrem Geburtstag einen Trip von L.A. nach New York schenkt, um dort Freund*innen zu besuchen. Ihr Mann ermutigt sie, die Reise mit dem Auto zu machen und damit auszudehnen, er kümmert sich in der Zwischenzeit um das gemeinsame Kind Sam. Allerdings kommt sie nicht weit: Nach einer halben Stunde fährt sie vom Highway ab und verliebt sich Hals über Kopf in den Mann, der an der Tankstelle ihre Scheibe putzt, Davey. Sie zieht für die gesamte Zeit des geplanten Trips in ein Motel und lässt ihr Zimmer von seiner Ehefrau, einer Innenausstatterin, einrichten. Von da an imaginiert sie sich in ein neues Leben mit Davey hinein, den sie beginnt, zu begehren, wie noch niemanden zuvor in ihrem Leben. Und dann fährt sie zurück in ihr altes…

Für mich sind die Handlungen der Protagonistin so kompromisslos und absurd wie nachvollziehbar. Die innere Zerrissenheit zwischen der Familie zuhause, in die sie nie ganz den Fuß hineingesetzt hat, und diesem lustvollen Fiebertraum im umdekorierten Motelzimmer war für mich körperlich spürbar. July garniert das Ganze mit sehr derber Sprache und einer Losgelöstheit von allen Konventionen, dass ich beim Lesen rote Wangen hatte. Ich habe dieser rastlosen Protagonistin alles Glück der Welt gewünscht, obwohl ich es ihr gleichzeitig aufgrund ihres zügellosen Egoismus manchmal nicht gönnen konnte. Krass! Krass gut.

🔥 Welch schöne Tiere wir sind

Diesen Backlist-Titel lese ich gerade ein zweites Mal. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die superreiche Naomi und ihre Freundin Sam. Die Teenager verbringen die Tage auf der flirrend-heißen Insel Hydra damit, umher zu streifen – bis sie den syrischen Flüchtling Faoud entdecken. Sie nehmen sich ihm an und schmieden einen folgereichen Plan, in dem Faoud zum Spielball der gelangweilten Naomi wird, die ihrem Vater und seiner Frau eins auswischen will. Eine atmosphärisch dichte und so beklemmende Geschichte, deren distanzierte Erzählweise eine Kühle schafft, die im Kontrast zur unbändigen Hitze Hydras steht.

⛰ Hundswut von Daniel Alvarenga

Ich habe mich selbst dabei überrascht, zu einem Buch zu greifen, dessen grausige Geschichte in den 1930ern in einem bayerischen Dorf spielt, durchzogen ist von tiefbayerischem Dialekt, eingebettet in atmosphärischer Dunkelheit. Warum dieses Buch empfehlen? Weil es aufzeigt, welche Gruppendynamiken entstehen können, wenn Menschen verzweifelt sind, Angst haben und einen Schuldigen suchen: Als im Wald mehrere bestialische Morde passieren, heißt es zunächst, es ginge ein Wolf um. Doch die Gerüchteküche brodelt und schnell sind sich die Mächtigen des Ortes einig: der Einsiedler Joseph Köhler wars. Ihm soll der Prozess gemacht werden, aber weil man fernab von München die Dinge selbst in die Hand nimmt, zieht der Pfarrer den mittelalterlichen Hexenhammer zurate – und alles gerät außer Kontrolle.

Hundswut ist eine Wucht mit einer tragischen Ausgangslage, die sich unaushaltbar zuspitzt, und das auf eine Weise, die nicht aktueller sein könnte. Leseempfehlung mit dem Hinweis auf äußerste Brutalität, auf die man sich gefasst machen muss.

⚖️ Prima Facie von Suzie Miller

Aus der Rubrik Ich weiß schon vorher, dass es mich zerstören wird und lese (in diesem Fall höre) ihn trotzdem: Im Roman Prima Facie (übersetzt von Katharina Martl, gelesen von Pegah Ferydoni), der auf dem gleichnamigen Theaterstück basiert, geht es um Tessa Ensler, einer sehr guten Strafverteidigerin, die sich aus der Arbeiter*innenklasse nach oben gearbeitet hat. Vor allem schreckt sie nicht davor zurück, Männer in Sexualdelikten zu vertreten, denn sie liebt und lebt das Gesetz. Bis Tessa etwas widerfährt, das ihren Glauben an die Justiz erschüttert und alles, wofür sie steht, ins Wanken bringt.

Wie gerecht kann das Rechtswesen sein, wenn es von weißen cis Männern niedergeschrieben wurde? Schützt es wirklich alle Menschen gleichermaßen? Prima Facie unterhält gut bis zur Mitte, dann wird es beinahe unaushaltbar schmerzhaft. Große Empfehlung, weil wichtig.

🧛‍♀️ Seven days in June von Tia Williams

Tia Williams schreibt bereits seit mehreren Jahren und sehr erfolgreich spicy RomComs, teilweise bereits für Netflix verfilmt – und trotzdem ist noch nichts davon auf Deutsch erschienen! Bin gespannt, wann sich das ändert, denn ihr neuer Roman wurde eben veröffentlicht und das nehme ich zum Anlass, euch „Seven days in June“ zu empfehlen. Die Story ist schnell erzählt:
Erfolgreiche Groschenroman-Autorin (Vampire meets Erotica, haha!) trifft bei einem Event auf den mit Preisen überhäuften Literaten, mit dem sie Anfang zwanzig für einige sehr turbulente Tage zusammen war. Seitdem haben sie sich nicht mehr gesprochen und die Leser*innen der jeweiligen Werke haben keine Ahnung, wie viel von ihm in ihren steckt – und umgekehrt.

Ich mochte an dieser Story vor allem, dass Protagonistin Eva Migränepatientin ist, was sie mit allen Mitteln versucht zu verstecken. Das gibt nicht nur dem Charakter Tiefe, sondern rückt auch eine chronische Krankheit in den Mittelpunkt. Eine klassive RomCom mit heißen Szenen und lässig-coolen Dialogen made in New York – die können’s halt.

🌅 Sundowners von Lesley Lokko

Diesen Roman habe ich als Jugendliche gelesen und dann nochmal in meinen Zwanzigern. Die deutsche Übersetzung „Die Welt zu Füßen“ (Angelika Felenda, Diana Verlag) ist mittlerweile vergriffen (gebraucht gibt es sie noch), deshalb empfehle ich hier die Ausgabe, die ich mir gestern gekauft habe – weil ich die Geschichte nach so vielen Jahren jetzt auch mal im Original lesen will.

Die 16-jährige Rianne De Zoete aus Südafrika wird auf ein Internat in England geschickt, wo sie Nathalie, Charmaine und Gabby kennenlernt. Die drei können Rianne anfangs nicht leiden, sie werden jedoch alle über die Jahre hinweg Freundinnen trotz extrem unterschiedlicher Lebensentwürfe. Dieses Buch ist weder seichte Unterhaltung noch eine klassische RomCom, dafür stehen viel zu sehr die Erfolge, Sehnsüchte und Ängste der vier Frauen im Mittelpunkt. Das love interest von Rianne gibt der Geschichte noch mehr Tiefe: Riitho, der ebenfalls aus Südafrika stammt, verabscheut sie – denn während sein Vater politischer Gefangener ist, ist Riannes einflussreiche Familie fett im Diamanten-Business und durchtränkt von Rassismus … Ich weiß nicht, wie gut dieses Buch (2004) gealtert ist, aber ich mag die ghanaisch-schottische Autorin Lesley Lokko und freue mich, wenn es jemanden von euch interessiert und wir uns nach dem Lesen austauschen.

🗞 Bright Young Women von Jessica Knoll

Fantastische Sprache, wahnsinnig greifbare Charaktere, Zeitebenen, die wunderbar miteinander verwoben sind, spannender Plot und sehr feministische Zwischentöne. Oha, da wird die Latte hoch gehängt!, denkt ihr, und ich sage euch, ich habe mich noch nicht mal warm getippt:

Im Januar 1978 wird die Studentin Pamela Schumacher nachts von einem Geräusch geweckt und findet zwei Freundinnen tot in ihren Betten, zwei weitere sind schwer verletzt. Weil sie den Täter sehen und identifizieren kann, wird sie in eine vier Jahrzehnte anhaltende Geschichte gezogen, die das ganze Land in Atem hält, denn die Opfer dieser Studentinnenverbindung sind nicht seine ersten und auch nicht die letzten. Pamela trifft auf Tina, die Jahre zuvor ihre beste Freundin verloren hat und gemeinsam kämpfen sie dafür, dass der Mann hinter Gitter kommt und die Presse faktenbasiert über die Geschehnisse schreibt.

Die fiktive Geschichte dieses Romans basiert auf den wahren Ereignissen rund um Amerikas wahrscheinlich bekanntesten Serienmörder, dessen Name nirgendwo im Buch genannt wird und ich es deshalb hier auch nicht tue. Der Plot zeigt nämlich vor allem auf, wie besessen und fasziniert Öffentlichkeit und Presse von Serienmördern sind, während den Opfern fast immer eine Mitschuld zuschoben wird. Als ein doch eigentlich „Bright Young Man“ wurde der Täter bei seiner Verurteilung vom Richter bezeichnet, das kann man sogar nachlesen oder sich in den Dokus vor Augen führen. Seine Opfer bekommen in diesem Roman – wenn auch stellvertretend, weil eben Fiktion – den nötigen und längst überfälligen Respekt.

💌 In Liebe von – eine Edition von Lost & Found

21 Autor:innen reagieren mit zeitgenössischen Liebesbriefen auf alte Fotografien: Bilder, die im Alltag aufgenommen worden sind und später auf Flohmärkten gefunden wurden, allerdings ohne erkennbare Geschichte. Lost & Found gibt diesen wirklich wunderschönen Momentaufnehmen eine neue Bedeutung.

Ich finde die Idee und Umsetzung der Herausgeberin Helena Melikov wahnsinnig inspirierend und möchte euch das Projekt ans Herz legen. Dieses Buch aus Briefen und Bildern ist ein ganz besonderes Geschenk für alle, die gerne lesen, Nostalgie lieben oder selbst Briefe schreiben.

✡️ „Gewässer im Ziplock“ von Dana Vowinckel

Den Roman habe ich im August gelesen, vor allem im Schwimmbad, als die Welt noch eine andere war. Zum Ende hin bin ich immer langsamer geworden, weil ich so abtauchen konnte in die Geschichte von Margarita, Avi und Marsha, dass ich nicht wollte, dass sie endet.

🇵🇸 „Eine Nebensache“ von Adania Shibli
(übersetzt von Günther Orth)

Dieses Buch kannte ich nicht, bis die Frankfurter Buchmesse die Preisverleihung für die Autorin Adania Shibli aufgrund der aktuellen Ereignisse verschoben hat – eine absolute Fehlentscheidung in meinen Augen. Auf Englisch und Deutsch ist der Roman gerade ausverkauft, in 1-2 Wochen aber wieder lieferbar, da gerade nachgedruckt wird. Ich lese ihn derzeit und möchte ihn euch empfehlen.

📄 Schreiben mit Aussicht – Schriftstellerinnen über ihr Schreiben
(herausgegeben von Ilka Piepgras)

Renommierte Autorinnen teilen in diesem Buch ihre Erfahrungen mit dem Schreiben, die so unterschiedlich sind, dass sich jedes Kapitel wie eine Wundertüte anfühlt. In den Texten steckt vieles drin, das ich selbst kenne und gleichzeitig habe ich immer wieder gestaunt über Erfahrungen, die ich bislang nicht gemacht habe – trotzdem, oder vielleicht genau deswegen, konnte ich so viel daraus ziehen. Ich kann diesen Schatz nicht nur Menschen empfehlen, die selbst schreiben, sondern auch allen, die gerne lesen – denn die Bücherwunschliste ist danach enorm gewachsen.

🥵 Sexuelle Revolution von Laurie Penny
(übersetzt von Anne Emmert)

Körperliche Gewalt, die von Männern ausgeht und sich gegen FLINTA richtet, ist kein isoliertes Phänomen, sondern wird erschreckend häufig als normal hingenommen. Laurie Penny beginnt ihr umfangreiches und von messerscharfen Beobachtungen durchzogenes Werk mit dem Satz ‘Dies ist eine Geschichte über die Entscheidung zwischen Feminismus und Faschismus’. Denn unsere Gesellschaft bewegt sich immer weiter nach rechts, was mit einem dominanten Männlichkeitsbild einhergeht und zeigt: Überall ist Krise, weil alle Krisen zusammenhängen. Sex und Macht, Trauma und Widerstand prallen aufeinander, weshalb Penny so dringend fordert: Wir brauchen eine Kultur des Consent, die weit über Sex hinausgeht. Amen.

🎮 Tomorrow and tomorrow and tomorrow von Gabrielle Zevin
(deutsch: Morgen, morgen und wieder morgen, übersetzt von Sonia Bonné)

Noch nie habe ich einen Roman derart penetrant Freund*innen empfohlen (lies: aufgedrängt) wie diesen, weil es mir ein Rätsel ist, warum dieser NYT-Bestseller hierzulande nicht ansatzweise so eingeschlagen ist wie in den USA. Die Geschichte um Sam und Sadie, deren Liebe zu Videogames sie bereits im Kindesalter verbindet, umspannt mehrere Jahrzehnte, in denen sie selbst Computerspiele entwickeln und damit extrem erfolgreich werden. Ich selbst habe überhaupt keine Berührungen mit Videogames, lasst euch davon also bloß nicht abhalten, denn in diesem popkulturellen Meisterwerk geht es vor allem um die Magie von Freundschaft und die Herausforderungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Geschichte hat mich extrem berührt und viel gelehrt darüber, wie man richtig gute Bücher schreibt.

🫦 Romantic Comedy von Curtis Sittenfeld

(noch nicht ins Deutsche übersetzt)

Sally Milz arbeitet als Comedy-Autorin für die Show The Night Owls (sehr stark angelehnt an Saturday Night Live), in welcher der Musikstar Noah Brewster einen Gastauftritt hat. Zwischen den beiden funkt es, aber Sally sabotiert die aufkeimenden Gefühle, weil sie nicht dran glaubt, dass ein heißer männlicher Popstar sich in eine unscheinbare weibliche Autorin verliebt – und schreibt einen Sketch darüber, dass solche Lovestorys nur dann passieren, wenn die Geschlechterrollen vertauscht sind.
Zwei Jahre später sitzt sie während Covid bei ihrem Schwiegervater in Kansas City, als sie eine E-Mail von Noah bekommt. Die beiden schreiben sich tag und nacht, bis Sally sich ins Auto setzt und zu ihm nach Kalifornien fährt. Dieses Buch ist witzig, warmherzig, schlau und spielt mit Geschlechterrollen und Schönheitsidealen. Man muss aber Bock haben auf die amerikanische Comedy-Landschaft, Covid und Stardom.

🤵🏼 Ehemänner von Jami Attenberg

Jarvis Miller lebt in Brooklyn, ihr Künstler-Ehemann liegt seit Jahren im Koma. Während sie das Unvermeidliche hinauszögert, lernt sie im Waschsalon drei Ehemännern kennen, die sie kurzerhand in die Clique der Einsamen aufnehmen. Gleichzeitig übt eine befreundete Galeristin Druck auf Jarvis aus, die verbleibenden Bilder ihres Mannes herauszurücken – schließlich sind die Toten oder zumindest Halbtoten die wirklich interessanten Künstler*innen. Also wühlt sie sich durch alte Fotos von ihm, die sie gar nicht gekannt hat. Und die geben ein Bild von einem Mann preis, das sie alles infrage stellen lässt. Ich liebe Attenbergs lakonischen Stil, die Schrulligkeit ihrer Charaktere und das famose Williamsburg als Kulisse, das Jarvis nebenbei kommentiert.

💍 Einfach super von Monica Heisey.

Maggie ist achtundzwanzig und war genau sechshundertacht Tage mit Jon verheiratet, als ihr erstes Scheidungsjahr beginnt. Und nun?

Der Roman begleitet die Protagonistin in ihrem Trennungsjahr. Das ist witzig, absurd, authentisch und auch ein bisschen traurig. Was ich am liebsten mochte: Maggies Google-Suchanfragen, anhand derer man ihren aktuellen Gefühlsstatus ganz gut ablesen konnte. Sie dreht sich nämlich wahnsinnig viel um sich selbst. Klar, Liebeskummer halt. Diesen Tanz um die eigene Achse könnte man hier und da als „unnötige Längen“ einstufen - aber wenn wir schneller zur Einsicht gelangen würden, dass der Typ ein Idiot ist, würde es diese Kolumne hier wahrscheinlich gar nicht geben.