Lesen am offenen Herzen

Hier findest du alle Buchtipps der einzelnen Ausgaben, neueste zuerst.

🧛‍♀️ Seven days in June von Tia Williams

Tia Williams schreibt bereits seit mehreren Jahren und sehr erfolgreich spicy RomComs, teilweise bereits für Netflix verfilmt – und trotzdem ist noch nichts davon auf Deutsch erschienen! Bin gespannt, wann sich das ändert, denn ihr neuer Roman wurde eben veröffentlicht und das nehme ich zum Anlass, euch „Seven days in June“ zu empfehlen. Die Story ist schnell erzählt:
Erfolgreiche Groschenroman-Autorin (Vampire meets Erotica, haha!) trifft bei einem Event auf den mit Preisen überhäuften Literaten, mit dem sie Anfang zwanzig für einige sehr turbulente Tage zusammen war. Seitdem haben sie sich nicht mehr gesprochen und die Leser*innen der jeweiligen Werke haben keine Ahnung, wie viel von ihm in ihren steckt – und umgekehrt.

Ich mochte an dieser Story vor allem, dass Protagonistin Eva Migränepatientin ist, was sie mit allen Mitteln versucht zu verstecken. Das gibt nicht nur dem Charakter Tiefe, sondern rückt auch eine chronische Krankheit in den Mittelpunkt. Eine klassive RomCom mit heißen Szenen und lässig-coolen Dialogen made in New York – die können’s halt.

🌅 Sundowners von Lesley Lokko

Diesen Roman habe ich als Jugendliche gelesen und dann nochmal in meinen Zwanzigern. Die deutsche Übersetzung „Die Welt zu Füßen“ (Angelika Felenda, Diana Verlag) ist mittlerweile vergriffen (gebraucht gibt es sie noch), deshalb empfehle ich hier die Ausgabe, die ich mir gestern gekauft habe – weil ich die Geschichte nach so vielen Jahren jetzt auch mal im Original lesen will.

Die 16-jährige Rianne De Zoete aus Südafrika wird auf ein Internat in England geschickt, wo sie Nathalie, Charmaine und Gabby kennenlernt. Die drei können Rianne anfangs nicht leiden, sie werden jedoch alle über die Jahre hinweg Freundinnen trotz extrem unterschiedlicher Lebensentwürfe. Dieses Buch ist weder seichte Unterhaltung noch eine klassische RomCom, dafür stehen viel zu sehr die Erfolge, Sehnsüchte und Ängste der vier Frauen im Mittelpunkt. Das love interest von Rianne gibt der Geschichte noch mehr Tiefe: Riitho, der ebenfalls aus Südafrika stammt, verabscheut sie – denn während sein Vater politischer Gefangener ist, ist Riannes einflussreiche Familie fett im Diamanten-Business und durchtränkt von Rassismus … Ich weiß nicht, wie gut dieses Buch (2004) gealtert ist, aber ich mag die ghanaisch-schottische Autorin Lesley Lokko und freue mich, wenn es jemanden von euch interessiert und wir uns nach dem Lesen austauschen.

🗞 Bright Young Women von Jessica Knoll

Fantastische Sprache, wahnsinnig greifbare Charaktere, Zeitebenen, die wunderbar miteinander verwoben sind, spannender Plot und sehr feministische Zwischentöne. Oha, da wird die Latte hoch gehängt!, denkt ihr, und ich sage euch, ich habe mich noch nicht mal warm getippt:

Im Januar 1978 wird die Studentin Pamela Schumacher nachts von einem Geräusch geweckt und findet zwei Freundinnen tot in ihren Betten, zwei weitere sind schwer verletzt. Weil sie den Täter sehen und identifizieren kann, wird sie in eine vier Jahrzehnte anhaltende Geschichte gezogen, die das ganze Land in Atem hält, denn die Opfer dieser Studentinnenverbindung sind nicht seine ersten und auch nicht die letzten. Pamela trifft auf Tina, die Jahre zuvor ihre beste Freundin verloren hat und gemeinsam kämpfen sie dafür, dass der Mann hinter Gitter kommt und die Presse faktenbasiert über die Geschehnisse schreibt.

Die fiktive Geschichte dieses Romans basiert auf den wahren Ereignissen rund um Amerikas wahrscheinlich bekanntesten Serienmörder, dessen Name nirgendwo im Buch genannt wird und ich es deshalb hier auch nicht tue. Der Plot zeigt nämlich vor allem auf, wie besessen und fasziniert Öffentlichkeit und Presse von Serienmördern sind, während den Opfern fast immer eine Mitschuld zuschoben wird. Als ein doch eigentlich „Bright Young Man“ wurde der Täter bei seiner Verurteilung vom Richter bezeichnet, das kann man sogar nachlesen oder sich in den Dokus vor Augen führen. Seine Opfer bekommen in diesem Roman – wenn auch stellvertretend, weil eben Fiktion – den nötigen und längst überfälligen Respekt.

💌 In Liebe von – eine Edition von Lost & Found

21 Autor:innen reagieren mit zeitgenössischen Liebesbriefen auf alte Fotografien: Bilder, die im Alltag aufgenommen worden sind und später auf Flohmärkten gefunden wurden, allerdings ohne erkennbare Geschichte. Lost & Found gibt diesen wirklich wunderschönen Momentaufnehmen eine neue Bedeutung.

Ich finde die Idee und Umsetzung der Herausgeberin Helena Melikov wahnsinnig inspirierend und möchte euch das Projekt ans Herz legen. Dieses Buch aus Briefen und Bildern ist ein ganz besonderes Geschenk für alle, die gerne lesen, Nostalgie lieben oder selbst Briefe schreiben.

✡️ „Gewässer im Ziplock“ von Dana Vowinckel

Den Roman habe ich im August gelesen, vor allem im Schwimmbad, als die Welt noch eine andere war. Zum Ende hin bin ich immer langsamer geworden, weil ich so abtauchen konnte in die Geschichte von Margarita, Avi und Marsha, dass ich nicht wollte, dass sie endet.

🇵🇸 „Eine Nebensache“ von Adania Shibli
(übersetzt von Günther Orth)

Dieses Buch kannte ich nicht, bis die Frankfurter Buchmesse die Preisverleihung für die Autorin Adania Shibli aufgrund der aktuellen Ereignisse verschoben hat – eine absolute Fehlentscheidung in meinen Augen. Auf Englisch und Deutsch ist der Roman gerade ausverkauft, in 1-2 Wochen aber wieder lieferbar, da gerade nachgedruckt wird. Ich lese ihn derzeit und möchte ihn euch empfehlen.

📄 Schreiben mit Aussicht – Schriftstellerinnen über ihr Schreiben
(herausgegeben von Ilka Piepgras)

Renommierte Autorinnen teilen in diesem Buch ihre Erfahrungen mit dem Schreiben, die so unterschiedlich sind, dass sich jedes Kapitel wie eine Wundertüte anfühlt. In den Texten steckt vieles drin, das ich selbst kenne und gleichzeitig habe ich immer wieder gestaunt über Erfahrungen, die ich bislang nicht gemacht habe – trotzdem, oder vielleicht genau deswegen, konnte ich so viel daraus ziehen. Ich kann diesen Schatz nicht nur Menschen empfehlen, die selbst schreiben, sondern auch allen, die gerne lesen – denn die Bücherwunschliste ist danach enorm gewachsen.

🥵 Sexuelle Revolution von Laurie Penny
(übersetzt von Anne Emmert)

Körperliche Gewalt, die von Männern ausgeht und sich gegen FLINTA richtet, ist kein isoliertes Phänomen, sondern wird erschreckend häufig als normal hingenommen. Laurie Penny beginnt ihr umfangreiches und von messerscharfen Beobachtungen durchzogenes Werk mit dem Satz ‘Dies ist eine Geschichte über die Entscheidung zwischen Feminismus und Faschismus’. Denn unsere Gesellschaft bewegt sich immer weiter nach rechts, was mit einem dominanten Männlichkeitsbild einhergeht und zeigt: Überall ist Krise, weil alle Krisen zusammenhängen. Sex und Macht, Trauma und Widerstand prallen aufeinander, weshalb Penny so dringend fordert: Wir brauchen eine Kultur des Consent, die weit über Sex hinausgeht. Amen.

🎮 Tomorrow and tomorrow and tomorrow von Gabrielle Zevin
(deutsch: Morgen, morgen und wieder morgen, übersetzt von Sonia Bonné)

Noch nie habe ich einen Roman derart penetrant Freund*innen empfohlen (lies: aufgedrängt) wie diesen, weil es mir ein Rätsel ist, warum dieser NYT-Bestseller hierzulande nicht ansatzweise so eingeschlagen ist wie in den USA. Die Geschichte um Sam und Sadie, deren Liebe zu Videogames sie bereits im Kindesalter verbindet, umspannt mehrere Jahrzehnte, in denen sie selbst Computerspiele entwickeln und damit extrem erfolgreich werden. Ich selbst habe überhaupt keine Berührungen mit Videogames, lasst euch davon also bloß nicht abhalten, denn in diesem popkulturellen Meisterwerk geht es vor allem um die Magie von Freundschaft und die Herausforderungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Geschichte hat mich extrem berührt und viel gelehrt darüber, wie man richtig gute Bücher schreibt.

🫦 Romantic Comedy von Curtis Sittenfeld

(noch nicht ins Deutsche übersetzt)

Sally Milz arbeitet als Comedy-Autorin für die Show The Night Owls (sehr stark angelehnt an Saturday Night Live), in welcher der Musikstar Noah Brewster einen Gastauftritt hat. Zwischen den beiden funkt es, aber Sally sabotiert die aufkeimenden Gefühle, weil sie nicht dran glaubt, dass ein heißer männlicher Popstar sich in eine unscheinbare weibliche Autorin verliebt – und schreibt einen Sketch darüber, dass solche Lovestorys nur dann passieren, wenn die Geschlechterrollen vertauscht sind.
Zwei Jahre später sitzt sie während Covid bei ihrem Schwiegervater in Kansas City, als sie eine E-Mail von Noah bekommt. Die beiden schreiben sich tag und nacht, bis Sally sich ins Auto setzt und zu ihm nach Kalifornien fährt. Dieses Buch ist witzig, warmherzig, schlau und spielt mit Geschlechterrollen und Schönheitsidealen. Man muss aber Bock haben auf die amerikanische Comedy-Landschaft, Covid und Stardom.

🤵🏼 Ehemänner von Jami Attenberg

Jarvis Miller lebt in Brooklyn, ihr Künstler-Ehemann liegt seit Jahren im Koma. Während sie das Unvermeidliche hinauszögert, lernt sie im Waschsalon drei Ehemännern kennen, die sie kurzerhand in die Clique der Einsamen aufnehmen. Gleichzeitig übt eine befreundete Galeristin Druck auf Jarvis aus, die verbleibenden Bilder ihres Mannes herauszurücken – schließlich sind die Toten oder zumindest Halbtoten die wirklich interessanten Künstler*innen. Also wühlt sie sich durch alte Fotos von ihm, die sie gar nicht gekannt hat. Und die geben ein Bild von einem Mann preis, das sie alles infrage stellen lässt. Ich liebe Attenbergs lakonischen Stil, die Schrulligkeit ihrer Charaktere und das famose Williamsburg als Kulisse, das Jarvis nebenbei kommentiert.

💍 Einfach super von Monica Heisey.

Maggie ist achtundzwanzig und war genau sechshundertacht Tage mit Jon verheiratet, als ihr erstes Scheidungsjahr beginnt. Und nun?

Der Roman begleitet die Protagonistin in ihrem Trennungsjahr. Das ist witzig, absurd, authentisch und auch ein bisschen traurig. Was ich am liebsten mochte: Maggies Google-Suchanfragen, anhand derer man ihren aktuellen Gefühlsstatus ganz gut ablesen konnte. Sie dreht sich nämlich wahnsinnig viel um sich selbst. Klar, Liebeskummer halt. Diesen Tanz um die eigene Achse könnte man hier und da als „unnötige Längen“ einstufen - aber wenn wir schneller zur Einsicht gelangen würden, dass der Typ ein Idiot ist, würde es diese Kolumne hier wahrscheinlich gar nicht geben.