Lesen am offenen Herzen
Hier findest du alle Buchtipps der einzelnen Ausgaben, neueste zuerst.
📄 Schreiben mit Aussicht – Schriftstellerinnen über ihr Schreiben
(herausgegeben von Ilka Piepgras)
Renommierte Autorinnen teilen in diesem Buch ihre Erfahrungen mit dem Schreiben, die so unterschiedlich sind, dass sich jedes Kapitel wie eine Wundertüte anfühlt. In den Texten steckt vieles drin, das ich selbst kenne und gleichzeitig habe ich immer wieder gestaunt über Erfahrungen, die ich bislang nicht gemacht habe – trotzdem, oder vielleicht genau deswegen, konnte ich so viel daraus ziehen. Ich kann diesen Schatz nicht nur Menschen empfehlen, die selbst schreiben, sondern auch allen, die gerne lesen – denn die Bücherwunschliste ist danach enorm gewachsen.
🥵 Sexuelle Revolution von Laurie Penny
(übersetzt von Anne Emmert)
Körperliche Gewalt, die von Männern ausgeht und sich gegen FLINTA richtet, ist kein isoliertes Phänomen, sondern wird erschreckend häufig als normal hingenommen. Laurie Penny beginnt ihr umfangreiches und von messerscharfen Beobachtungen durchzogenes Werk mit dem Satz ‘Dies ist eine Geschichte über die Entscheidung zwischen Feminismus und Faschismus’. Denn unsere Gesellschaft bewegt sich immer weiter nach rechts, was mit einem dominanten Männlichkeitsbild einhergeht und zeigt: Überall ist Krise, weil alle Krisen zusammenhängen. Sex und Macht, Trauma und Widerstand prallen aufeinander, weshalb Penny so dringend fordert: Wir brauchen eine Kultur des Consent, die weit über Sex hinausgeht. Amen.
🎮 Tomorrow and tomorrow and tomorrow von Gabrielle Zevin
(deutsch: Morgen, morgen und wieder morgen, übersetzt von Sonia Bonné)
Noch nie habe ich einen Roman derart penetrant Freund*innen empfohlen (lies: aufgedrängt) wie diesen, weil es mir ein Rätsel ist, warum dieser NYT-Bestseller hierzulande nicht ansatzweise so eingeschlagen ist wie in den USA. Die Geschichte um Sam und Sadie, deren Liebe zu Videogames sie bereits im Kindesalter verbindet, umspannt mehrere Jahrzehnte, in denen sie selbst Computerspiele entwickeln und damit extrem erfolgreich werden. Ich selbst habe überhaupt keine Berührungen mit Videogames, lasst euch davon also bloß nicht abhalten, denn in diesem popkulturellen Meisterwerk geht es vor allem um die Magie von Freundschaft und die Herausforderungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Geschichte hat mich extrem berührt und viel gelehrt darüber, wie man richtig gute Bücher schreibt.
Romantic Comedy von Curtis Sittenfeld
(noch nicht ins Deutsche übersetzt)
Sally Milz arbeitet als Comedy-Autorin für die Show The Night Owls (sehr stark angelehnt an Saturday Night Live), in welcher der Musikstar Noah Brewster einen Gastauftritt hat. Zwischen den beiden funkt es, aber Sally sabotiert die aufkeimenden Gefühle, weil sie nicht dran glaubt, dass ein heißer männlicher Popstar sich in eine unscheinbare weibliche Autorin verliebt – und schreibt einen Sketch darüber, dass solche Lovestorys nur dann passieren, wenn die Geschlechterrollen vertauscht sind.
Zwei Jahre später sitzt sie während Covid bei ihrem Schwiegervater in Kansas City, als sie eine E-Mail von Noah bekommt. Die beiden schreiben sich tag und nacht, bis Sally sich ins Auto setzt und zu ihm nach Kalifornien fährt. Dieses Buch ist witzig, warmherzig, schlau und spielt mit Geschlechterrollen und Schönheitsidealen. Man muss aber Bock haben auf die amerikanische Comedy-Landschaft, Covid und Stardom.
🤵🏼 Ehemänner von Jami Attenberg
Jarvis Miller lebt in Brooklyn, ihr Künstler-Ehemann liegt seit Jahren im Koma. Während sie das Unvermeidliche hinauszögert, lernt sie im Waschsalon drei Ehemännern kennen, die sie kurzerhand in die Clique der Einsamen aufnehmen. Gleichzeitig übt eine befreundete Galeristin Druck auf Jarvis aus, die verbleibenden Bilder ihres Mannes herauszurücken – schließlich sind die Toten oder zumindest Halbtoten die wirklich interessanten Künstler*innen. Also wühlt sie sich durch alte Fotos von ihm, die sie gar nicht gekannt hat. Und die geben ein Bild von einem Mann preis, das sie alles infrage stellen lässt. Ich liebe Attenbergs lakonischen Stil, die Schrulligkeit ihrer Charaktere und das famose Williamsburg als Kulisse, das Jarvis nebenbei kommentiert.
💍 Einfach super von Monica Heisey.
Maggie ist achtundzwanzig und war genau sechshundertacht Tage mit Jon verheiratet, als ihr erstes Scheidungsjahr beginnt. Und nun?
Der Roman begleitet die Protagonistin in ihrem Trennungsjahr. Das ist witzig, absurd, authentisch und auch ein bisschen traurig. Was ich am liebsten mochte: Maggies Google-Suchanfragen, anhand derer man ihren aktuellen Gefühlsstatus ganz gut ablesen konnte. Sie dreht sich nämlich wahnsinnig viel um sich selbst. Klar, Liebeskummer halt. Diesen Tanz um die eigene Achse könnte man hier und da als „unnötige Längen“ einstufen - aber wenn wir schneller zur Einsicht gelangen würden, dass der Typ ein Idiot ist, würde es diese Kolumne hier wahrscheinlich gar nicht geben.